Von “O” wie Opfer bis “A” wie Aufregung: aus Opfern Erlebte machen?

Autor: Andre Wolf

Betrachtung einer Geschichte, wie sie nur das Netz schreiben kann: über einen Shitstorm, verschiedene Meinungen und ein verdrehtes Sharepic. Doch halten wir uns zunächst an alles Lesbare.

Am 22. Februar 2017 bekamen wir eine Anfrage zu einem Artikel, welcher auf der Webseite von Emma zu lesen ist [1]. Es geht dabei thematisch um das Täter-Opfer Verhältnis in Bezug auf Vergewaltigungen, um vorgefertigte Bilder, welche allein durch die Begriffe hervorgerufen werden und letztendlich auch um eine These, in der es um den Austausch der Begrifflichkeit “Opfer” geht.

Hier liest man im einleitenden Teil des Artikels:

Opfer sollen nicht mehr Opfer heißen

Die Missy-Autorin Mithu Sanyal will aus Opfern „Erlebende“ machen. Dudenfest. Initiativen von Terre des Femmes bis Störenfriedas protestieren scharf!

Exakt diese These ist nun nicht allein Hauptthema des Artikels, sondern letztendlich auch die primäre Reizthese, die ihre eigene spezielle Berühmtheit erlangt hat. Emma hat in diesem Fall die Informationen aus der taz bezogen, und zwar aus einem Artikel vom 13. Februar 2017. Auf diesen Artikel mit dem Titel “Du Opfer! – Der Begriff stellt Menschen als wehrlos dar, gilt sogar als Beleidigung. „Erlebende“ dagegen ist aktiv und ändert die Perspektive.” wird auch verwiesen [2]. Exakt an diesen Artikel halten wir uns an dieser Stelle, da hier Mithu Sanyal als Autorin genannt wird.

In diesem Artikel geht es ebenso um den Begriff Opfer, seine gewonnene Bedeutung im sakralen Sinne und dem Bild, welches das Wort Opfer bei seiner Nutzung hervorruft. Das ist der Ansatzpunkt des Artikels, der in seiner eigenen Lösung endet:

Da das Substantiv „Opfer“ aus dem Verb „opfern“ gebildet wurde, ist es nur naheliegend, aus dem Verb „erleben“ das Substantiv „Erlebende“ zu bilden. […]

Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Be­trof­fe­ne*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! […]

Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.

In diesem gebotenen Lösungsansatz steckt natürlich viel Diskussionsfeuer drin. Das mag vielleicht bewusst formuliert sein, vielleicht auch nicht. Jedoch zeigen die Kommentare unter dem Artikel bereits vom ersten Tag der Erscheinung an, dass Zündstoff vorliegt und dasd augenscheinlich sehr viele Menschen ein Problem mit der Darstellung haben. Dieser Diskussionsstrang hält sich jedoch im Ganzen eher sachlich und im Grunde hätte das ganze Thema nie einen Eingang auf dieser Webseite gefunden, da es sich letztendlich um einen Artikel mit einer selbst entwickelten These handelt.

Neben der Berichterstattung in der Emma wurde zuvor auf der Webseite der Störenfriedas am 18. Februar 2017 ein offener Brief unter dem Titel “Ein offener Brief gegen die sprachliche Verharmlosung von sexueller Gewalt”[3] veröffentlicht, der in seiner Tonart ebenfalls durchaus rauer ist. (Spoiler: Mithu Sanyal beschreibt diesen offenen Brief in ihrer eigenen Veröffentlichung in der HuffPost als Fehlinterpretation.) Mit diesem offenen Brief gewann jedoch das Thema mehr Bekanntheit.

Doch dann kam der Hass

Man kann über alles diskutieren, man muss niemals ein und derselben Meinung sein. Man darf auch mal gegen etwas sein. Doch das Problem der Social-Media-Moderne liegt augenscheinlich darin, dass immer alles gleich in Hass umkippt. So tauchte jüngst auf die streitbare These aus dem taz-Artikel dann ein Sharepic auf:

image
(Screenshot: Facebook)

Hier verlagert sich nun die Auseinandersetzung mit der These auf ein persönliches Level, in welchem zudem die Aussagen aus dem taz-Artikel verdreht werden, bzw. die Aussagen aus der Emma-Veröffentlichung gefolgert werden [4]:

„Gutmenschin rät Opfern: Die Vergewaltigung kann auch ein Erlebnis sein. Viel Spaß!“

Die Kommentare hierzu, bzw. auf der Seite der Autorin ufern dementsprechend auch aus.

image.png

An dieser Stelle, auch wenn man kein Befürworter der Opfer/Erlebnis These ist, muss man deutlich sagen, dass diese Aussage nie getroffen wurde. Zum einen hat der ursprüngliche Artikel keinerlei Bezüge zu einer Asylthematik (auch wenn so mancher Kommentar dies implizieren mag), noch geht es um Spaß. Zudem führen diese Arten der Interpretation auch dazu, dass die Autorin nun bedroht wird, was nun die Autorin in einem anderen Artikel auf der Webseite der Huffington Post verkündet [5].

Seitdem schreiben mir Menschen, die mich nicht kennen und nichts über mich wissen, und wünschen mir, dass ich vergewaltigt werde, weil sie Opfer schützen wollen. […]

Damit sind sie aber noch zurückhaltend. Viele führen aus, dass ich nicht nur vergewaltigt, sondern massenvergewaltigt werden solle. Und zwar von „ungewaschenen“ Geflüchteten. […]

Es gibt inzwischen im Netz meine Adresse inklusive Telefonnummer – mit Vergewaltigungsaufrufen – schließlich sei ich ja attraktiv genug dafür oder nicht attraktiv genug dafür, da können sich die Menschen, die hier zu einem Verbrechen aufrufen nicht einigen.

Diese Art der Äußerungen übertreten natürlich die Grenze und sind fernab einer sachlichen Kritik. Das sind immer diese Momente, in denen man sich fragt, was das soll. Man muss nicht mit der These einer Meinung sein, man darf Gegenstellungen beziehen. Aber diese Unsitte des ständigen Drohens und Einschüchterns, welche augenscheinlich mittlerweile Methode geworden ist, ist der falsche Weg.

Erklärung der Autorin

In der HuffPost erklärte die Autorin nun, dass die These nicht von ihr selbst stammt, sondern entstammt die Grundidee zu dem Artikel in der taz einem Gespräch aus einer Lesung. So erklärt Mithu Sanyal in ihrem Artikel in der HuffPost:

[…] dass ich am 1. Februar eine Lesung im taz-café aus meiner Kulturgeschichte der Vergewaltigung gemacht habe, auf der Betroffene von sexualisierter Gewalt darum gebeten haben, nicht als Opfer bezeichnet zu werden.

Sie haben daraufhin den Vorschlag gemacht „Erlebende sexualisierter Gewalt“ genannt zu werden, weil dadurch eine Empathieverschiebung auf ihr Erleben stattfinden würde […]

Daraufhin habe sie mit einer zweiten Autorin den Artikel den Artikel für die taz verfasst, in der sie als Person für diesen Vorschlag einstehe. Diese Darstellung veröffentlicht sie auch verkürzt auf ihrem eigenen Blog [6].

An dieser Stelle ein Einschnitt, um die Beobachterposition zu beenden.

Es liegen also 5 verschiedene Webartikel für den vorangegangenen Teil zugrunde, die wir an dieser Stelle nochmals chronologisch sortieren:

  1. Ursprungsartikel taz
  2. Offener Brief der Störenfriedas
  3. Veröffentlichung bei Emma
  4. Überspitzung durch Halle-Leaks
  5. Erklärung der Autorin

Offene Fragen an dieser Stelle

Natürlich darf diskutiert werden, ob der Begriff “Erlebende” nicht vielleicht doch ein eher positives Bild erweckt. Ebenso darf natürlich auch infrage gestellt werden, ob dieser Vorschlag nicht letztendlich dann doch Einzelsichten darstellt und die Forderung, im Duden den Begriff “Erlebende” aufzunehmen dementsprechend überzogen ist. Ja, darf man, aber bitte ohne Grenzen zu überschreiten.

Problematisch aus unserer Sicht, gerade aus der aktuellen Position heraus, ist die Frage, warum nicht bereits im ursprünglichen Artikel angemerkt wurde, dass dieser Vorschlag aus einem Gespräch zu einer Lesung entstanden ist. So lautet es in der Erklärung in der HuffPost “Ich habe ihnen daraufhin zusammen mit einer anderen Autorin angeboten, mit meinem Namen für diesen Vorschlag einzustehen”. Warum erst 10 Tage später diese Information? Warum wurde dieses Stilelement, welches letztendlich ja zu diesen Missverständnissen geführt hat, überhaupt gewählt?

Gleichzeitig bleibt aktuell noch offen, warum der ursprüngliche Artikel in der taz zu lesen ist, die dazu gehörige Erklärung jedoch in der Huffington Post.

Wertungsfrei

Zum Abschluss ein Wort aus unserem Redaktionsbereich: wir haben in unserer Redaktionsgruppe auch mehrfach über diesen Verlauf, die Argumente und auch die dahinter steckende Idee diskutiert. Als heterogene Gruppe ergaben sich dabei eine Vielzahl an interessanten Kommentaren, jedoch hat sich deutlich gezeigt, dass auch an dieser Stelle im Netz wieder so heiß gekocht wird, dass es in Hass umschlägt.

Den ursprünglichen Inhalt können wir nicht bewerten, jedoch zeigt sich wieder eine deutliche Übersteigerung im Diskussionsverhalten, sowie auch in einigen Interpretationen zu diesem Fall (“Viel Spass”). Es geht abermals wieder um eine Hasskultur, welche in den sozialen Netzwerken entsteht. Der Moment, wo Menschen einfach kein Interesse daran haben, einen Diskussionsabtausch zu verfolgen, sondern stereotypisch aufgrund der extremsten Darstellung zu dieser Diskussion eingreifen.

Denn das ist der exakt falsche Weg, an der Diskussion teilzunehmen.

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