Sozialbetrug durch Ukrainer, die per Flixbus einreisen?

In einer Voice-Nachricht wird Flüchtlingen vor dem russischen Angriffskrieg pauschal Sozialbetrug vorgeworfen.

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Autor: Elke Haberl

Die Behauptung

Ukrainer und Ukrainerinnen würden mit dem Flixbus nach Deutschland fahren, Hartz IV beantragen und mit diesem direkt wieder in die Ukraine zurückreisen. Beamten wären dazu angehalten, dies zu dulden und „wegzugucken“.

Unser Fazit

Die verbreitete Voice-Nachricht entpuppte sich als reine Mutmaßung und bleibt auf dem Level einer Behauptung, ohne einen Beweis der Echtheit oder Nachweisbarkeit zu erbringen.

Beziehen Ukrainer Sozialleistungen, um dann sofort wieder mit einem Flixbus in die Ukraine zu reisen?

In sozialen Netzwerken verbreitet sich seit Anfang September 2022 die Behauptung, die mittels einer Voice-Nachricht die Runde macht, dass ukrainische Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden, um Sozialleistungen zu beziehen, dann aber sofort wieder mit dem FlixBus in die Ukraine reisen und die Leistungen weiterhin nutzen und dies, obwohl viele Ukrainer nicht einmal eine Meldeadresse haben. Angeblich wären die Beamten auch hier angehalten, rasch zu handeln und „wegzugucken“

„Mit unseren Geldern würden sie in der Ukraine gut weiterleben“: Diese Aussage wird dadurch stark gemacht, da behauptet wird, alle Verbindungen von FlixBus in die Ukraine wären wochenlang im Voraus ausgebucht.

(Wir haben den Inhalt der Voice-Nachricht, der unserer Redaktion vorliegt, abgeschrieben sic!))

Hallo ihr Lieben, ich habe soeben mit meinem, ja mit meinem Nachbarn und Freund Frank gesprochen und der hat mir von seiner Sekretärin erzählt, die bei ihm in der Firma arbeitet, die heißt Irina und Irina hat Schwiegereltern in der Ukraine wohnen, in Kiew und ja die nimmt jetzt 4 Wochen Urlaub, um Ihre Schwiegereltern in Kiew für 4 Wochen zu besuchen. Dann haben natürlich alle gefragt: „Hä, wie, wie kannst Du nun Deine Schwiegereltern besuchen, da ist doch Krieg in der Ukraine und wie, wieso fährst Du dahin? Ähhh Ähhh setzt Du Dich da nicht einer riesigen Gefahr aus?“

„Nein, überhaupt nicht und da ist es gar nicht so schlimm dort, da kann man sehr sehr gut weiterhin noch leben. Wir fahren da jetzt hin, um dort 4 Wochen Urlaub zu machen. „
„Ja und und wie kommt Ihr dahin, wie wollt Ihr dahin fahren?

„Och, da fahren wir mit dem Flixbus hin. Da sind ganz viele Flixbusse eingesetzt, die zwischen Deutschland und der Ukraine pendeln.“
„Und das krasse ist, man muss, man, die Flixbusse sind auf über zwei Wochen im Voraus, bis auf den letzten Platz ausgebucht, weil die Ukrainer, mit dem Flixbus nach Deutschland pendeln, hier zum Amt gehen, sich melden, HartzIV beziehen und dann mit dem Flixbus wieder zurückfahren. Und wenn die hier im Amt auch sagen: „Äh, können wir nicht ein bisschen schneller machen, ich muss den Bus bekommen“, dann guckt das deutsche Volk oder die Beamten sind dazu angehalten wegzugucken. Die haben teilweise gar keine Meldeadressen oder sind hier gemeldet und fahren alle wieder mit dem Flixbus zurück.

Das ist vom Frank….die Kollegin Irina, die das erzählt hat, aufgedeckt hat und sagt, das ist gängige Praxis. Es sind viel viel viel viel weniger Ukrainer hier in Deutschland ansässig als gemeldet und die pendeln für günstiges Geld mit dem Flixbus, weshalb man auf zwei Wochen keinen Flixbus bekommt.

Wer das nicht glaubt, muss einfach nur auf die Flixbus-Seite gehen und selbst versuchen ein Ticket nach Kiew oder in die Ukraine zu bekommen und da wird er feststellen, dass viele Linien fahren und alle ausgebucht sind, weil es den Pendelverkehr in unsere Sozialsysteme gibt. Unvorstellbar!

Diesen Behauptungen sind wir von Mimikama nachgegangen und zu folgenden Ergebnissen gekommen:

Wir haben mit Flixbus, Flüchtlingsunterkünften, dem Ministerium für Arbeit und Soziales und dem Jobcenter gesprochen, ob diese etwas über diesen „Sozialbetrug“ wissen, bzw. ob ihnen diese Voice-Nachricht bekannt sei. Keine der befragten Stellen konnte die Geschichte bestätigen oder hatten Hinweise auf solche „Sozialbetrug“-Vorfälle. 

Ausbuchung FlixBus von Berlin nach Kiew

Die Aussage, FlixBus wäre über Wochen im Voraus ausgebucht, konnten wir nicht bestätigen, da wir innerhalb von zwei Tagen eine Fahrt von Berlin nach Kiew hätten buchen können. Zusätzlich wurde behauptet, dass im Gegenteil zu anderen europäischen Städten viel mehr Busse nach Kiew fahren würden.

Unsere Recherche vor Ort hatte hierzu ergeben, dass viele Busse eine Verbindungsmöglichkeit nach Kiew waren, aber oftmals keine Direktfahrten. Zum Beispiel waren wir persönlich am Südkreuz Berlin, als am 16.9.22 um 12:20 eine vollständig ausgebuchte Fahrt nach Kiew starten sollte. Auf diesem Bus stand jedoch nicht Kiew, sondern Wien/Vienna.

Foto: Flixbus / Mimikama vom 16.9.22
Foto: Flixbus / Mimikama vom 16.9.22

Der Bus fuhr über Dresden und Prag nach Wien und es hätte eine Möglichkeit gegeben, über diese Verbindung nach Kiew zu gelangen. Wir haben den Busfahrer befragt, ob er Ukrainer an Bord habe, und er sagte uns, dass es keinen einzigen Reisenden mit ukrainischem Pass im Bus gebe.

Auch zu einer Direktfahrt von Berlin nach Kiew waren wir am 16.9.22 um 17:00 am ZOB Berlin vor Ort und haben uns den Bus und deren Mitfahrenden näher angesehen. Dieser Bus startete nicht in Berlin, sondern kam aus dem Westen von Deutschland. Laut Aushang hielt der Bus in Düsseldorf, Duisburg, Essen, Dortmund, Bielefeld, Hannover und Braunschweig, bevor er nach Berlin kam. Der Bus war also nicht leer, sondern auf dieser Strecke stiegen bereits mehrere Reisende zu. Ob die Mehrheit der Reisenden Ukrainer:innen waren, konnten wir aufgrund von Sprachbarrieren des Busfahrers hier leider nicht erfragen.

Beweggründe für die Fahrt

Wir konnten uns mit einigen ukrainischen Reisenden, die in Berlin zustiegen, unterhalten und auch nach den Beweggründen fragen, warum sie wieder in die Heimat fuhren. Der häufigste Grund waren fehlende Dokumente, die von der Ukraine geholt werden mussten, da es niemanden vor Ort gab, der diese hätte holen und nach Deutschland verschicken können. Zusätzlich haben einige Frauen angegeben, dass sie nach langer Trennung ihre Männer, die im Krieg kämpfen, kurz wiedersehen wollen. Es gab aber auch Ukrainer:innen, die in Berlin einfach nur Tourist:innen waren und wieder zurück in die Heimat kehrten.

Foto: Flixbus / Mimikama vom 16.9.22
Foto: Flixbus / Mimikama vom 16.9.22

Rückmeldung von FlixBus

Auch bei FlixBus haben wir direkt nachgefragt und erfahren, dass sich bei den Fahrten von Deutschland in die Ukraine und retour seit August 2022 ein Rückgang der Nachfrage im Vergleich zu den Vormonaten ergeben habe. Auffälligkeiten im Buchungsverhalten seien laut Flixbus keine bekannt. Auch schon vorher seien die Verbindungen zwischen Deutschland und der Ukraine sehr beliebt gewesen.

Auch wenn viele Verbindungen auf z. B. der Strecke Berlin – Kiew oft ausgebucht sind, so stellt dies noch keinen Beleg für einen Sozialbetrug dar. Zusätzlich hat unsere Recherche ergeben, dass nicht alle Verbindungen von Ukrainer:innen genutzt werden, sondern viele Menschen unterschiedlicher Nationen ebenfalls mit FlixBus fahren.

Flixbus schreibt

MIMIKAMA
E-Mail von Flixbus.de vom 20.09.2022

Wir bieten aktuell Direktfahrten in über 20 ukrainische Städte an (aus Deutschland, Tschechien, Polen, Ungarn, Slowakei und Österreich). Generell ist es so, dass FlixBus-Fahrten zwischen Deutschland und der Ukraine seit Monaten sehr beliebt sind und teilweise viele Tage im Voraus ausgebucht. Das ist keine neue Entwicklung, im Gegenteil. Im August ging die Nachfrage verglichen mit den Vormonaten sogar zurück. Uns sind keinerlei Auffälligkeiten im Buchungsverhalten bekannt.

Flüchtlingsunterkünfte

Da ukrainische Geflüchtete meist in Flüchtlingsheimen untergekommen sind, haben wir auch hier nachgefragt, ob es denn theoretisch möglich wäre, die Meldeadresse des Heims auch dann zu behalten, wenn man über Monate nicht vor Ort wäre. Das Haus Kopernikus in Berlin hat uns hier die Auskunft erteilt, dass Geflüchtete maximal 3 Tage aus der Unterkunft abwesend sein dürfen, um ihren Platz nicht zu verlieren. In triftigen Gründen wäre auch eine Woche möglich, andernfalls würde jedoch der Platz in der Unterkunft verloren gehen und damit auch die Meldeadresse, die aber zwingend notwendig ist, um Sozialleistungen zu erhalten.

Zudem benötigen Geflüchtete für den Leistungsbezug ein deutsches Konto. Die Berliner Stadtmission erklärt uns hierzu: „Ganz zu Beginn, wenn die Menschen noch kein Konto haben, werden die Leistungen bei persönlichen Vorspracheterminen in bar ausgezahlt. Zur Kontoeröffnung ist eine polizeiliche Anmeldung (Adressanmeldung) nötig. Wie lange Ukrainer:innen nach einer Mietwohnung suchen, ist sehr unterschiedlich – angesichts des extrem angespannten Wohnungsmarkts in Berlin aber allgemein sehr schwierig. Von unseren Bewohner:innen hatten bislang nur vereinzelte Menschen das Glück, gerade für Familien ist es eine langwierige Suche. Abgesehen davon können sich die Menschen i.d.R. erst auf Wohnungssuche machen, wenn ihr Asylverfahren abgeschlossen ist.“ (Berliner Stadtmission | Evangelische Kirche (EKBO) Haus Kopernikus)

Bestimmungen Jobcenter

Für Bezug von Hartz IV ist eine Meldeadresse in Deutschland nötig

Vonseiten des Jobcenters haben auch ukrainische Leistungsbezieher:innen wie auch die Deutschen einen Anspruch von maximal 21 Tage Ortsabwesenheit. Zu diesen Tagen zählen auch Wochenenden und Feiertage. Eine Ortsabwesenheit muss vom zuständigen Jobcenter vorher genehmigt werden und bei der Rückkehr ist ein persönliches Erscheinen im Jobcenter mit Personalausweis erforderlich. Wird dies nicht gemacht, so werden die Zahlungen eingestellt und es kommt eventuell sogar zu einer Rückforderung bereits ausgezahlter Leistungen. (Quelle: Jobcenter)

Correctiv schreibt zu diesem Thema:

Hartz IV ist ein anderer Begriff für das Arbeitslosengeld II, das in Deutschland diejenigen erwerbsfähigen Menschen bekommen, die entweder kein Einkommen haben oder von ihrem Einkommen nicht leben können. Wie das BMAS mitteilte, können nur diejenigen Menschen Hartz IV bekommen, die eine Adresse im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Jobcenters haben. Sie müssen per Post erreichbar sein. „Ohne dauerhafte Anwesenheit in der Bundesrepublik besteht folglich auch für neu aus der Ukraine eingereiste Menschen kein Leistungsanspruch“, so das BMAS.

Das BMAS dementierte auf Anfrage zudem, dass Mitarbeitende in Behörden aufgefordert würden, wegzuschauen, wenn Menschen aus der Ukraine keine Meldeadressen vorlegen könnten. Die angesprochenen „Pendelfahrten“ seien dem Ministerium nicht bekannt. (Quelle)

Fazit

Wir von Mimikama konnten bei unserer Recherche keine Möglichkeit erkennen, wie ukrainische Geflüchtete, so wie behauptet wurde, Sozialleistungen trotz Abwesenheit beziehen könnten. Dass Frauen ihre Männer für kurze Zeit wiedersehen möchten und nötige Dokumente ihren Weg nach Deutschland finden müssen, erscheinen als sehr logische und nachvollziehbare Gründe. Die verbreitete Voice-Nachricht entpuppte sich als reine Mutmaßung und bleibt auf dem Level einer Behauptung, ohne einen Beweis der Echtheit oder Nachweisbarkeit zu erbringen.

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Autorin: Elke Haberl, mimikama

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