In den Niederlanden werden Bürger nicht gezwungen, Migranten aufzunehmen!

In einem Artikel einer rechtspopulistischen Seite wird behauptet, dass durch ein Gesetz in den Niederlanden Bürger nun gezwungen werden können, Migranten aufzunehmen. Doch die Behauptung ist mit viel Fantasie aus der Luft gegriffen!

Autor: Ralf Nowotny

Die Behauptung

In einem Artikel wird behauptet, dass durch ein Gesetz in den Niederlanden Bürger nun gezwungen werden können, Migranten aufzunehmen.

Unser Fazit

Es handelt sich einzig und alleine um eine temporäre Regelung bis nach der Sommerpause, die den Bürgermeistern der Gemeinden die Verpflichtung auferlegt, sich eigenverantwortlich um die Unterbringung von Geflüchteten zu kümmern, woraus aber nicht hervorgeht, dass sie nun Bürger zur Unterbringung zwingen können.

Holländische Regierung zwingt künftig Bürger zu Migrantenaufnahme in den eigenen vier Wänden!“ titelt die Seite drohend, und natürlich wird auf Social Media sofort befürchtet, dass es hierzulande auch bald so sein wird. Tatsächlich gibt es den Niederlanden in dem temporär aktivierten Gesetz von 1952 einen Punkt, der eine Notunterbringung von Geflüchteten beinhaltet – doch dieser Teil des Gesetzes wurde gar nicht aktiviert.

Die Behauptung

In dem Artikel der Seite (archiviert HIER) wird behauptet, dass ein Gesetz es der niederländischen Regierung nun erlaubt, von den Bürgern zu verlangen, dass sie Flücht­linge unter­bringen. Nicht nur das: Die Bürger müssen die Migranten dann auch noch auf eigene Kosten ernähren und können nötigenfalls sogar aus den eigenen Wohnungen vertrieben werden, um Migranten unterzubringen.

Die Behauptung der Seite über Migranten in den Niederlanden
Die Behauptung der Seite über Migranten in den Niederlanden

Zusätzlich soll die Stadt Utrecht angekündigt haben, für die nächsten sechs Wochen neu verfüg­bare Wohnungen nur an Geflüchtete zu vergeben.

Um was für ein Gesetz handelt es sich?

Wie in dem Screenshot auf der Seite, der das Abstimmungsverhalten der Parteien zeigt, ersichtlich ist, dreht es sich um die Artikel 2c und 4 Wvb.
„Wvb“ ist die Abkürzung für „Wet verplaatsing bevolking“, zu Deutsch: Gesetz zur Bevölkerungsbewegung.

Das Gesetz entstand am 10. Juli 1952 und enthält „Bestimmungen über die Freizügigkeit der Bevölkerung im Falle von Krieg, Kriegsgefahr, damit ähnlichen oder damit verbundenen außergewöhnlichen Umständen“. Es geht also in erster Linie um die eigene Bevölkerung.

Ein Beispiel: Angenommen Deutschland würde die Niederlande überfallen: Dann könnte die niederländische Regierung mit diesem Gesetz die Bevölkerung im Norden des Landes dazu verpflichten, die Bürger aus dem überfallenen Teil im Osten, die ja nun Flüchtende sind, aufzunehmen – falls das komplette Gesetz in Kraft treten würde.

Es geht aber nicht um das gesamte Gesetz, sondern nur um die Artikel 2c und 4. Und dort steht:

Artikel 2c:Dieses Gesetz gilt auch für große Personenbewegungen, die nicht auf einen Beförderungsbefehl zurückzuführen sind.

Artikel 4:Der Bürgermeister ist, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, in seiner Gemeinde mit der Durchführung eines nach § 2a oder § 2b angeordneten Bevölkerungstransfers beauftragt. Wenn es sich um die Evakuierung und den Umzug handelt, können unsere Minister und, wenn es sich um die Unterbringung und Versorgung handelt, unser Innenminister Richtlinien oder Anweisungen erlassen oder veranlassen, dass dem Bürgermeister hinsichtlich seiner im vorstehenden Absatz beschriebenen Aufgaben Anweisungen erteilt werden.

Vereinfacht ausgedrückt: Artikel 2c sagt also aus, dass das Gesetz auch für Migranten gilt, Artikel 4 besagt, dass die Bürgermeister darüber bestimmen, wie Flüchtende untergebracht werden, die Regierung aber Einfluss darauf nehmen darf.

Die zwangsweise Unterbringung von Flüchtenden ist jedoch damit nur sehr theoretisch möglich, denn dafür existiert Artikel 7 des Gesetzes – über den aber gar nicht abgestimmt wurde.

Sehr theoretisch könnte also die Regierung oder ein Bürgermeister sagen: „Ihr müsst jetzt Ukrainer aufnehmen“, doch in der Praxis besteht dafür gar keine Notwendigkeit (und würde wahrscheinlich auch nur sehr schwer umsetzbar sein), wie die Zweite Kammer der Generalstaaten erklärt (siehe HIER).

Demnach wurden diese beiden Artikels des Gesetzes wieder temporär (!) bis nach der Sommerpause in Kraft gesetzt, da die Unterbringung der Geflüchteten die Kommunen selbst verwalteten, jedoch nicht alle Kommunen Unterkünfte anbieten wollen. Deswegen werden nun die Bürgermeister dazu verpflichtet, um somit eine gleichmäßige Verteilung der Migranten sicherstellen zu können.

Nach der Sommerpause werde der Notstand wieder beendet und ein vorläufiges Gesetz verabschiedet, welches immer noch die Bürgermeister in die Pflicht nimmt, aber auch praktische Angelegenheiten wie das Lebensunterhaltsgeld regelt.

Interessanterweise kommt in den Niederlanden nur aus dem rechten Flügel Zweifel: Gideon van Meijeren von der EU-skeptischen und nationalkonservativen Partei FVD befürchtet, dass die Bürger verpflichtet werden könnten, Migranten einen Platz zur Verfügung zu stellen und für sie zu kochen (was 1:1 von „Unser Mitteleuropa“ übernommen wurde), was jedoch von Dilan Yeşilgöz-Zegerius, Ministerin für Justiz und Sicherheit der Niederlande, ausgeschlossen wurde – und ohnehin unsinnig wäre, ohne den Artikel 7 ebenfalls zu aktivieren.

Und was hat es mit der Regelung in Utrecht auf sich?

Die Seite behauptet, dass in der Stadt Utrecht für die nächsten sechs Wochen neu verfüg­bare Wohnungen nur an Geflüchtete vergeben werden. Zumindest teilweise stimmt diese Behauptung:

Die Gemeinde Utrecht kündigte aufgrund der momentanen Notlage Maßnahmen in Bezug auf die Wohnungsnot und viele Geflüchtete in der Stadt an (siehe HIER). Demnach gilt vom 1. August bis 12. September folgende Regelungen:

  • Die meisten (nicht alle) frei werdenden Sozialwohnungen werden an Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis gehen
  • Notfälle bekommen auch in diesem Zeitraum Wohnraum zur Verfügung gestellt
  • Bedingung der Stadt dafür: Mitfinanzierung der Wohnungsbaugesellschaften und der Zentralregierung für 1.000 zusätzliche Wohnungen in 2023 und weitere 1.000 – 1.500 zusätzliche Wohnungen in 2024 und 2025
  • Die Regelung gilt nur für die Stadt Utrecht, nicht für andere Gemeinden in der Region Utrecht
  • Nach dem 12. September gilt wieder die Normalregelung: 70% gehen an Menschen, die in einer normalen Situation ein Zuhause suchen, 30% an Obdachlose, besonders schutzbedürftige Menschen, junge Menschen mit Beratungsbedarf und damit auch an Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis

In Utrecht leben derzeit 490 Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis. Jede Woche werden rund 42 Häuser verfügbar sein. Das Ziel der Stadt ist es, in diesen 6 Wochen möglichst vielen der Geflüchteten zu helfen, ein neues Zuhause zu finden.

Insbesondere rechte Parteien in den Niederlanden nutzen die Situation aus, um Sozialneid zu schaffen, doch in Anbetracht der Tatsache, dass die durchschnittliche Wartezeit für Wohnungssuchende in Utrecht 11 Jahre (!) beträgt, sind die 6 Wochen, in denen Geflüchtete bevorzugt werden, ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Zusammenfassung

Die Behauptung, dass Bürger nun in den Niederlanden Migranten aufnehmen und ihnen sogar Essen kochen müssen, entstammt einzig der Befürchtung eines rechtskonservativen Politikers, jedoch ging es in den aktivierten Artikeln des Gesetzes gar nicht darum. Auch mit viel Fantasie wäre dies auch nur sehr schwer umsetzbar.

Es handelt sich einzig und alleine um eine temporäre Regelung bis nach der Sommerpause, die den Bürgermeistern der Gemeinden die Verpflichtung auferlegt, sich eigenverantwortlich um die Unterbringung von Geflüchteten zu kümmern. Zwar darf die Regierung darauf Einfluss nehmen, doch dass es sich dabei um eine eventuelle Anweisung zur Zwangsunterbringung in privaten Wohnungen handelt, ist reine (rechte) Panikmache und steht gar nicht zur Debatte.

Mit Dank an unsere niederländische Mitarbeiterin Janine, die für uns die entsprechenden Gesetzestexte wälzte.

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