Wissenschaftlich nicht haltbar: Die „Great Barrington Erklärung“

Autor: Charlotte Bastam

Seit dem 6. Oktober macht die „Great Barrington Declaration“, eine von angeblichen über 15.000 wissenschaftlichen und medizinischen Expert*Innen weltweit unterzeichnete Erklärung, Furore.

Die Forderungen darin: Herdenimmunität statt Lockdown durch die Rückkehr der Jungen und Gesunden zum Alltag. Doch die Thesen der Erklärung sind wissenschaftlich höchstumstritten.

Die Erklärung, die von zahlreichen Epidemiolog*Innen und anderen medizinischen Expert*Innen unterzeichnet worden sein soll, fordert eine Abkehr von strengen Maßnahmen. Denn die Lösung für die Gruppe ist nicht Eindämmung, sondern Herdenimmunität.

Demnach sollen junge und gesunde Menschen wieder ihren gewöhnlichen Alltag bestreiten, zur Arbeit oder zur Schule gehen. Ältere und kranke Menschen sollen dagegen länger abgeschottet werden. So lange bis die gesunden Menschen, eine ausreichende Herdenimmunität hergestellt haben. Verpackt ist das Prinzip unter dem klingenden Namen „gezielter Schutz“ („focused Protection“).

Eine einfache Lösung, die sich erst einmal gut anhört.

Besser könnte es doch auch nicht für die Wirtschaft und die persönliche Freiheit in einer Pandemie kommen. Vorausgesetzt man ist jung und gesund.

Doch Vorsicht. Andere medizinische Expert*Innen warnen bereits vor der Erklärung. Denn wenn auch Verständnis in der medizinischen Fachwelt für Kritik an der Härte von Maßnahmen vorhanden ist, besteht für Kritiker*Innen der Erklärung ein Problem mit der Gewissheit, mit der diese Lösungen vorgebracht werden.

Der Präsident der „Academy of Medical Sciences“ Professor Sir Robert Lechler bezeichnet in einem Statement, die Exklusion von älteren Menschen als „unethisch“ und auch nicht vollständig möglich. Auch sei der Virus längst nicht so ungefährlich für junge und gesunde Menschen wie in der Erklärung behauptet wird. Gerade die Langzeitfolgen einer Infektion können gravierend sein, vieles davon ist noch nicht ausreichend erforscht. Für eine Herdenimmunität, so der Experte, müssten mindestens 70% der Bevölkerung erkranken. Und das mit möglichen Gefahren, die noch vollkommen unberechenbar aufgrund unsicherer Verläufe und möglichen Langzeitschäden sind.

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Auch gibt es für die reine Möglichkeit und Wirksamkeit einer Herdenimmunität bei Covid-19 nach wie vor keine standhaften Beweise. Ganz im Gegenteil, man weiß noch nicht, wie lange man nach einer Infektion tatsächlich immun ist. Auch zeichnen sich bereits Fälle ab, wo sich Menschen sogar zweimal mit dem Virus angesteckt haben.

Wirklich? Angebliche Expert*Innen mit Namen wie Dr. Johnny Bananas

Trotzdem geben sich die Unterzeichner*Innen der Erklärung Gewiss. Doch wer sind diese überhaupt? Nicht nur echte Wissenschaftler*Innen jedenfalls. Sky News veröffentlichte eine Untersuchung der Unterschriften und fand heraus, dass sich darunter viele unseriöse Namen wie „Dr. Johnny Bananas“ und „Dr. Person Fakename“ befinden. Tatsächlich kann die Erklärung ohne Kontrolle, von jedem, dem die Aussagen passen, unterschrieben werden. Damit sind die Tore für jede Art von Maßnahmen- und Corona-Kritiker*Innen geöffnet und dabei sinkt die Anzahl der echten Wissenschaftler*Innen unter den Unterschriften. Wobei auch echte Mediziner*Innen wissenschaftlich nicht haltbare Thesen aufstellen können – wie Mimikama unlängst zeigte.

Die „Great Barrington Erklärung“ ist also so wie sie verfasst ist, nicht haltbar.

Der bedenkliche politische Hintergrund der Erklärung

Die „Great Barrington Declaration“ wird durch das „American Institute for Economic Research“ AIER unterstützt. Jenes Institut formuliert auf seiner eigenen Website starke neoliberale Vorstellungen von freien Märkten, in denen Eingriffe seitens Regierungen auf ein Minimum beschränkt werden sollten. Prinzipien, die also gerade nicht Ältere und Schwächere begünstigen, sondern die bereits Starken in der Gesellschaft. Komischerweise ganz anders als in der Erklärung eigentlich angekündigt.

+++Nachtrag vom 21.10.2020+++

Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie (GfV) zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die Covid-19 Pandemie

In den vergangenen Wochen sahen wir weltweit, insbesondere auch bei unseren europäischen Nachbarn, wie die Anzahl an SARS-CoV-2-Infizierten mit näherungsweise exponentieller Dynamik anstieg und weiterhin ansteigt . Während Deutschland bis vor kurzem eine moderate Inzidenz verzeichnete, ist auch hier mittlerweile der erneute Beginn einer exponentiellen Ausbreitung zu beobachten . In Österreich (133) und in der Schweiz (230) ist die 14-Tage Inzidenz im Vergleich zu Deutschland (47)5 bereits deutlich höher.
Die wieder verstärkte Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen ist insbesondere auf private Veranstaltungen wie Familienfeste, Hochzeitsfeiern sowie andere Zusammenkünfte zurückzuführen. Obwohl sich dadurch der Großteil des Infektionsgeschehens in jüngeren Altersklassen abspielt, die von den gesundheitlichen Folgen von COVID-19 zumeist deutlich weniger betroffen sind als ältere , sehen wir überall eine Zunahme an Hospitalisierungen und ein stetiges Vordringen der Infektionen in höhere Altersgruppen .

Aufgrund der explosiven Infektionsdynamik, die wir in allen Hotspots quer durch Europa feststellen, steht zu befürchten, dass ab einer bestimmten Schwelle auch in bisher unkritischen Regionen die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren geht. Bei Überschreiten dieses Schwellenwerts sind die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr realisierbar und eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile, einschließlich besonders vulnerabler Risikogruppen, nicht mehr adäquat zu verhindern. Es steht zu erwarten, dass dies zu einer raschen Überlastung der Gesundheitssysteme führen würde, was zum Beispiel in Deutschland allein schon wegen des Mangels an Intensivpflegekräften bereits bei weit unter 20.000 Neuinfektionen pro Tag der Fall sein könnte . Hierunter wird nicht nur die Behandlung von COVID-19 Patienten, sondern die gesamte medizinische Versorgung leiden.

Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen. So plädieren die UnterzeichnerInnen der sogenannten Great Barrington Declaration für die sofortige Aufhebung aller Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens, einschließlich aller Abstandsregeln und der Maskenpflicht. Um Morbidität und Mortalität in den vulnerablen Gruppen (Ältere, Vorerkrankte) abzumildern, schlägt die Declaration besondere Schutzmaßnahmen für diese Personen vor bis hin zur Quasi-Isolierung („Menschen im Ruhestand, die zu Hause wohnen, sollten sich Lebensmittel und andere wichtige Dinge nach Hause liefern lassen“).

Wir lehnen diese Strategie entschieden ab, obwohl wir selbstverständlich die enorme Belastung der Bevölkerung durch die einschneidenden Eindämmungsmaßnahmen anerkennen. Auch die Gesundheitsversorgung in anderen, nicht mit Covid-19 assoziierten Bereichen, leidet unter den Einschränkungen, die zur Abmilderung der Pandemie verhängt wurden ,11. Dennoch sind wir überzeugt, dass die Schäden, die uns im Falle einer unkontrollierten Durchseuchung unmittelbar aber auch mittelbar drohen, diese Belastungen um ein Vielfaches überträfen und in eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe münden können. Mit dieser Einschätzung sind wir nicht alleine: in einer Erklärung, die am 14. Oktober in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht wurde („John Snow Memorandum“) , äußern zahlreiche internationale ExpertInnen ebensolche Bedenken und raten mit allem Nachdruck von der Verfolgung der in der Great Barrington Declaration propagierten Strategie der unkontrollierten Durchseuchung ab.

Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, da selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gibt, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf ergibt sich z.B. bei Übergewicht, Diabetes, Krebserkrankungen, einer Niereninsuffizienz, chronischen Lungenerkrankungen, Lebererkrankungen, Schlaganfall, nach Transplantationen und während einer Schwangerschaft . Eine mögliche
Komplikation einer überstandenen COVID-19-Erkrankung stellt auch das sogenannte „long COVID“Syndrom dar, das verschiedene Spätschäden an Atemwegen, Gefäßen, dem Nervensystem oder anderen Organen zusammenfasst, welche die Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und vermutlich auch Lebenserwartung enorm einschränken .

Ferner wissen wir noch nicht zuverlässig, wie lange eine durch eine Infektion erworbene Immunität anhält. Es wird zunehmend klar, dass gerade die wenig symptomatischen Infektionen, wie sie bei jüngeren Menschen vorherrschen, keine stabile Immunität verleihen . Der Vorstand der Gesellschaft für Virologie unterstützt daher ausdrücklich die Position der UnterzeichnerInnen des John Snow Memorandums und hält das Anstreben der Herdenimmunität ohne Impfung für unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant.

Wir respektieren abweichende Haltungen, die einzelne KollegInnen in den Medien und sozialen Netzen vertreten, da kontroverse Diskurse Wesensmerkmal sowohl der Wissenschaft als auch der Demokratie sind. Dennoch hält es der Vorstand der Gesellschaft für Virologie für geboten, in dieser Stellungnahme seine Einschätzung zusammenzufassen, die zahlreichen Gesprächen und Emails nach zu urteilen auch die Haltung der Mehrheit der virologisch und ärztlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätigen Mitglieder unserer Gesellschaft repräsentiert.

Der Vorstand der Gesellschaft für Virologie
Prof. Dr. Ralf Bartenschlager, Universitätsklinikum Heidelberg
Prof. Dr. Thomas Stamminger, Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. Ulf Dittmer, Universitätsklinikum Essen
Prof. Dr. Sandra Ciesek, Universitätsklinikum Frankfurt
Prof. Dr. Klaus Überla, Universitätsklinikum Erlangen

unter Beteiligung von:

Dr. Marco Binder, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg
Prof. Dr. Melanie Brinkmann, Technische Universität Braunschweig und Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung Braunschweig
Prof. Dr. Christian Drosten, Charité, Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Isabella Eckerle, Universitätsklinikum Genf, Schweiz
Prof. Dr. Beate Sodeik, Medizinische Hochschule Hannover
Prof. Dr. Friedemann Weber, Justus-Liebig-Universität Gießen

Quelle und Verweis inkl. Links: Stellungnahme / Gesellschaft für Virologie e.V.

 

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