„Warum versucht man diesem frechen Pack überhaupt zu helfen?“ – Ein Video sorgt für Entrüstung und übelste Hetzkommentare.

Autor: Tom Wannenmacher

Auf Facebook wird momentan vermehrt ein Video geteilt, in dem Flüchtlinge in einem Zug Wasser und Nahrung angeboten bekommen, diese jedoch verweigern.

Um dieses Video geht es (Screenshot Standbild)

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Was in den Kommentaren zu dem Video folgt, spottet jeder Beschreibung:

„Die sollen verrecken!!!“
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„Die nehmen bloß euros und markenklamotten. Ja, so sieht armut aus!!!!!“
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„Vernichtet diesen Dreck“
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„Öffnet die Kammern“ (!)
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„Solche Viecher sind es doch nicht wert… […]“
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Es wird sich in den Kommentaren über die „undankbare Islamische Horde“ echauffiert, die doch „garantiert keine echten Flüchtlinge seien. Ein Kommentator fragt provokativ: „Wozu gibt es Waffen?“

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Rein sachlich betrachtet sieht man durchaus, dass die Flüchtlinge im Zug jeden Versuch der Polizei, ihnen Essen und Wasser auszuhändigen, abwehren. Doch was ist dort wirklich zu sehen, wie sind die Hintergründe?

Schauen wir uns das Video einmal genauer an

Was zunächst auffällt, aber anscheinend niemanden weiter verwundert, ist die Tatsache, dass es zu dem Video keine Tonspur mit Erklärungen oder Kommentaren gibt. Es bleiben dem Betrachter also nur die Bilder, um sich einen Eindruck von der Lage zu verschaffen.

Diese zeigen Flüchtlinge, die Hilfe ablehnen. Ohne die Hintergründe zu kennen, fragt man sich logischerweise, warum.

Die Geschichte hinter dem Video

Es handelt sich bei den Aufnahmen des Zuges von Budapest nach (vorgeblich) Sopron, nahe der Österreichischen Grenze, der – entgegen der Zusage der Ungarischen Behörden – nicht zur Grenze fuhr, sondern bereits nach 30 km im Bahnhof der Stadt Bicske stoppte. Anscheinend gab es einen bisher nicht veröffentlichten Plan, die Flüchtlinge in ein dortiges Lager zu bringen, weswegen dort auch bereits Busse bereitgestellt wurden.

Was ist an einem Lager denn so schlimm? Warum sind die Flüchtlinge denn nicht froh, dort unterzukommen?

Rechtlich ist gegen die Vorgehensweise der Ungarn nichts einzuwenden. Sie wollten dort die Flüchtlinge registrieren, wie es das Dubliner Abkommen zu Flüchtlingen in der EU vorsieht. Jedoch sehen die EU-Regelungen sicherlich nicht vor, dass die Menschen vor Ort so demütigend behandelt werden, dass sie aus Angst bestimmt nicht dort bleiben wollen.

Und das ist nur ein Teil der Geschichte!

Für die Flüchtlinge stellt sich das ganz anders dar. Verfolgen wir einmal den typischen Weg eines Flüchtlings, bis er nun dort in diesem Zug (vorläufig) endete:

Eine Flucht, die in Syrien beginnt, dauert Wochen, teilweise sogar Monate und ist voller Gefahren. Es gab Flüchtlinge unter den Menschen in dem Zug, die teilweise tagelang nicht geschlafen haben, weil sie es nicht gewagt haben, die Augen zu schließen, unaufmerksam zu sein, aus Angst, ergriffen, verhaftet oder sogar erschossen zu werden. Nach einem langen und beschwerlichen Weg durch die Türkei, einer halsbrecherischen und teuren, von Schleppern organisierten Überfahrt nach Griechenland, die keine Garantie bietet, lebend auf der anderen Seite anzukommen, sowie einer kräftezehrenden Reise quer durch Mazedonien und Serbien, teils eng zusammengedrängt in überteuerten Bussen, teils tagelang zu Fuß, kommen sie schließlich an der Grenze von Serbien zu Ungarn an. Der Großteil des Geldes, das sie sich für die Flucht durch den Verkauf quasi aller ihrer Habseligkeiten in ihrer Heimat beschafft haben, ist aufgebraucht. An der Grenze treffen sie auf Stacheldraht, Ungarische Grenzbeamte, und eventuell sogar auf dort aufmarschierte Vertreter der rechten Jobbik-Partei, die des Öfteren an der Grenze patrouillieren und rechtsradikale, ausländerfeindliche Parolen rufen.

Die weiteren Erfahrungen, die die Flüchtlinge in Ungarn machen müssen, sind ebenfalls alles andere als positiv, wie man auch hier in vielen verschiedenen Medien nachvollziehen konnte. Vor allem ist es die Desinformation, die diesen Leuten Angst macht. Endlich in Budapest am Bahnhof angekommen, sind Hinweisschilder oder Informationen generell rar gesät bis nicht vorhanden. Der internationale Zugverkehr wird eingestellt, die Menschen, teilweise auch Familien mit Kindern, harren am Bahnhof aus, ohne Essen, teilweise ohne Wasser. Ohne Ahnung, wie es weitergehen soll. Dann wird der Bahnhof geräumt. Dutzende von Polizisten treiben die Menschen nach draußen. Man organisiert sich irgendwie, einige Flüchtlinge kratzen ihr letztes Geld zusammen um endlich ein Ticket nach München oder Wien erstehen zu können und steigen dann, als die Züge wieder fahren (was auch sehr spärlich angekündigt wurde), in den Zug, der laut Aufschrift zur Grenze nach Sopron fahren soll. Von da aus wäre es nur noch ein kurzes Stück bis nach Österreich, wo man schon Sonderzüge bereithält und sich auf die Versorgung der ankommenden Menschen einstellt.

Dann hält der Zug auf einmal kurz nach der Abfahrt, es heißt, es ginge jetzt in ein Lager. Nach einer wochen- oder monatelangen Odyssee, ständig in Angst und am Ende ihrer Kräfte, nachdem bereits manche der Mitreisenden verloren gegangen oder sogar gestorben sind, sollen die Menschen jetzt in einem Land, in dem sie bisher nur schlecht behandelt wurden, aus einem Zug, für den sie eine Fahrkarte haben, aussteigen und in ein stacheldrahtumfasstes Lager gehen. Viele der Flüchtlinge weigern sich.

Währenddessen achtet die zahlreich vertretene Polizei darauf, das bereitstehende Rote Kreuz und andere freiwillige Helfer nicht auf das Bahngelände zu lassen. Lediglich die Polizei selbst versucht später, die Flüchtlinge zum Aussteigen aus dem Zug zu bewegen, indem sie ihnen Essen und Wasser anbietet.

Das Video zeigt ein paar Minuten dieser Szenen. Ein paar Minuten einer wochen- und monatelangen Geschichte.

Als die Polizisten später die verbleibenden Flüchtlinge aus dem Zug treiben, wird vorher ein Güterzug in Stellung gebracht, um den Kameras die Sicht zu verdecken.

Bei der Räumung kommt ein Mensch zu Tode.

Wir können es nicht ermessen

Ganz ehrlich: Niemand kann ermessen, was diese Leute durchgemacht haben oder beurteilen, ob ein Hungerstreik hier „angemessen“ ist. Erst recht nicht anhand eines Videos, bei dem die Tonspur entfernt wurde. Was von vielen Kommentatoren als frech, undankbar oder unverfroren bezeichnet wurde, ist in Wahrheit Angst und Verzweiflung.

Was muss mit einem Menschen passieren, bevor er sich freiwillig aus Verzweiflung seine Familie umklammernd auf die Gleise wirft? Uns steht es nicht zu zu urteilen.

Und Kommentare, die oben als kleiner Auszug zitiert wurden, entbehren jeglicher Pietät, Menschenwürde und jedem Anstand. Teilweise erfüllen sie sogar Straftatbestände.

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